Games - der fehlgeleitete Spieltrieb


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Haben Sie ein Computerspiel gespielt? Eine Computer-Patience gelegt oder Moorhühner gejagt? Oder gar ein Game mit Levels gespielt, wo Sie also Punkte sammeln, Aufgaben lösen und so Stufe um Stufe im Spiel vorwärtskommen?
Gehören Sie gar zu einer Spiel-Comunity, spielen also mit oder gegen andere Menschen, nicht gegen ein Computerprogramm?
Oder halten Sie sich von all den virtuellen Spielverführungen fern?

Denn genau das sind viele Computergames: Ver-führungen. Sie 'führen' uns sehr wohl, aber kennt jemand ihr Ziel? Bringen sie uns unserem eigenen Lebensziel näher? (Was war das nochmals?)

Die folgenden Gedanken machte ich mir, als ich kürzlich das Game Merge Dragons1 entdeckt und mehrere Stunden lang auf meinem PC gespielt habe. Ich habe es nun wieder deinstalliert.

Ver-Führung - wohin?Nach oben ↑

Die Vorsilbe "Ver-" lässt erahnen: Solche Spiele führen uns von unserem Weg weg.

Ich will Computerspiele keineswegs verteufeln, das würde sie gerade für die Jugend nur noch interessanter machen. Ich möchte allerdings diese paar Gedanken teilen.

Vorweg sei gesagt, dass ich das Spielen an sich - alleine oder in einer Gruppe - als etwas zutiefst Menschliches verstehe. Spielen ist enorm wichtig für uns zum Entspannen, etwas Integrieren, Spass haben, ... und es ist eine grosse Triebfeder beim Lernen! Auch ich spiele - wenn auch selten - Mal ein kurzes Knobel-Spiel auf dem PC.

Was ich kritisch betrachte, ist, dass unsere natürliche Verspieltheit und Neugier im digitalen Bereich ausgenutzt wird.

Wer sich - wie Kinder und Jugendliche besonders - nicht durch Abgrenzung und Disziplin gegen die Verlockungen zum Weitermachen wehren kann, wird durch viele Computerspiele konditioniert. Ferner werden uns Lebenszeit sowie Lebenskraft auf zwei Arten fast unmerklich 'gestohlen':

Einerseits durch jenes Spielen, das sich extrem in die Länge zieht, weil es kein Ende findet. Man kann durhaus ganze Tage oder Nächte lang durchspielen.

Andererseits durch absichtliche Wartezeiten am Computer oder Handy. Diese Wartezeiten haben wenig Lebensqualität: Man starrt entweder gespannt auf den Bildschirm, bis sich etwas tut, oder man wartet eine halbe Minute auf das "X", um die nervige Werbung wegzuklicken, oder man tut etwas anderes, z. B. kurz essen, reden, den Chatverlauf prüfen,... ist dabei aber in Gedanken immer auch beim Spiel und somit nur halb bei der Sache.

Die Frage ist also, wie lange hält ein Computerspiel unsere Aufmerksamkeit gefangen? Und welche wichtigen oder essentiellen Dinge kommen dadurch zu kurz?

Wenn kein "Game Over" uns rettetNach oben ↑

Der Leistungsdruck wird nicht nur durch Spiele unter Zeitdruck, sondern - subtiler - auch durch Level-Games gefördert. Spiele also, welche praktisch nie zu Ende sind, weil immer noch höhere Levels dazukommen. Das Spiel ist hier nie vorüber. Kaum ist ein Level erreicht, soll schon der neue erobert werden. Wer kann da schon "nein" sagen?

Jede noch so kleine Leistung im Spiel wird zwar sofort belohnt (man sieht die Punktezahl steigen, oder die Belohnung ist akustischer, sprachlicher, grafischer oder beim Smartphone sogar sensorischer Art), aber die Belohnung kann nicht wirklich ausgekostet und gefeiert werden: Um nicht(s) zu verlieren, muss man gleich weitere Punkte sammeln, Rätsel lösen, vorwärtschreiten, Wesen retten oder abknallen und Dinge finden!

Die Freude ist also stets von sehr kurzer Dauer. Ein kurzer Kick sozusagen. Man weiss ja, dass Spielerfolge das Belohnungszentrum im Gehirn kurz aktivieren. Die Spannung darf einfach nie nachlassen. Dafür sorgen Aufforderungen zum Weiterspielen und auch die Musikkulisse, welche uns auffordert, weiterzumachen in ihrer repetitiven und Spannung erzeugenden Art.

Wer das (unendliche) Spiel willentlich abschalten will, muss innere Kraft aufwenden, um sich von diesem Gehetzt-Werden zu lösen. Der Augenblick, wo man aufhört zu spielen, gleicht dem Erwachen aus einem Traum und ganz kurz, spürt man enen Schmerz wegen des Entzugs.

Wer also gamen will, um sich von der Arbeitswelt zu erholen, sollte sich aufgrund der vielen Parallelen der Games zur Schul- und Arbeitswelt überlegen, ob es wirklich das Richtige ist oder nicht doch dasselbe in Grün im virtuellen Raum.

Die Belohnungen im Game sind das Gegenteil vom Feierabendbier nach getaner Arbeit, wenn man müde aber mit gutem Gefühl ins Sofa sinkt oder mit Kollegen zusammensitzt. Das Gegenteil von der grossen Feier im Familienkreis nach dem bestandenen Schulabschluss oder der beruflichen Beförderung.

Denn beim Gamen fehlt die Zeit, die Belohnung richtig auszukosten und sie auch in der Seele ankommen zu lassen (das vegetative Nervensystem kommt zu kurz). Jede Belohnung wird gekoppelt an den Drang, weiterzumachen. Sie macht nicht wirkich zufrieden (so, dass man aufhören könnte), sie erfüllt uns nicht wirklich.

Man kann höchstens später im Kollegenkreis oder im Chat der Onlinecommunity mit seinem Punktestand oder Level prahlen. Doch der Druck bleibt, weiterzumachen, denn die Konkurrenz schläft nicht. Erkennen Sie Parallelen zur Arbeitswelt?

Wer profitiert?Nach oben ↑

Dass die Besitzer der Rechte am Spiel finanziell profitieren, das steht ausser Frage: Durch den Verkauf des Spiels, durch die Werbung im Gratisspiel oder durch den Verkauf gesammelter Nutzerdaten kommen sie zu Geld und Einfluss.

Aber wer genau profitiert von unserer langen Zeit vor dem Bildschirm und von unserer Konditionierung?2

Die Konditionierung zu immer mehr Leistung und dem Gefühl, immer mehr erreichen zu wollen, dient am ehesten unserer aktuellen Gesellschaftsform (freie Marktwirtschaft z. B.).

In ihrer kranken Ausprägung presst sie Menschen (und die Natur) aus wie Zitronen, um sie dann fallen zu lassen, wenn nichts mehr zu holen ist. Wir gewöhnen uns im Spiel daran, in solchen widernatürlichen Settings zu "funktionieren", selbst so zu denken und unsere eigenen (v.a. körperlichen) Grenzen und Bedürfnisse zu missachten.

Ferner profitieren die Arbeitswelt, Kursanbieter und bei gewissen Spielen militärische oder paramilitärische Organisationen von der manchmal sehr bewusst gesteuerten Konditionierung: Z. B. bei Piloten-, Strategie-, Shooter bzw. Egoshooter3-Games u.a. Befehle auszuführen, Mitgefühl abspalten zu können und unter Stress immer noch klar zu denken.4

Durch Computerspiele (und Simulationen) können bestimmte Fähigkeiten spielerisch trainiert werden, was ja inzwischen sogar die Schulen erkannt haben. Gerade ehrgeizige Kinder werden so (durch die steten Aufmunterungen) zu Höchstleistungen gereizt - und sie verbringen freiwillig viel Zeit vor dem Bildschirm, würden sie die Eltern nicht vor dem eigenen übertriebenen Ehrgeiz und dem unersättlichen Spieltrieb schützen.

Zum Glück existieren auch in der Gesellschaft noch - oder wieder - genügend Menschen, welche gegen diesen gesellschaftlichen Trend gegensteuern, indem sie das Kollektiv im Auge behalten, an die soziale Verantwortung appellieren, die Erhaltung der Schöpfung fordern und an kommende Generationen denken - oder indem sie den Menschen nicht als Maschine wahrnehmen, sondern als einen lebendigen Organismus voller Überraschungen. Sie sind ein wichtiges Korrektiv.5

Trotzdem hat sich das neue Leistungsdenken inzwischen weit etabliert und der Leistungsdruck (auch Selbstoptimierungsdruck) fördert Depressionen, Burnout, Arbeitslosigkeit, ja, sogar Selbstmord in allen Altersstufen ab Schulalter. Ist das unser einziger Ausweg aus diesem post-modernen "Spiel des Lebens"?

Leben im Standby-ModusNach oben ↑

Es reicht heute nicht mehr aus, ein LAP-Zertifikat, ein Diplom, einen Bachelor, Master oder einen anderen Ausbildungsabschluss vorzuweisen. Die Wertschätzung dafür fehlt oder ist nur von sehr kurzer Dauer. Er genügt nicht mehr. Ein Fortbildungskurs "jagt" den anderen. Man hetzt so von Level zu Level, denn die Konkurrenz schläft nicht.

Im Leben sammelt man Noten statt Sterne, Geld statt Punkte, Zertifikate statt Game-Levels, das Spiel bleibt dasselbe und es hetzt uns durchs Leben bis wir im Nu alt sind.

An gewissen Arbeitsorten jagt eine Herausforderung die andere und die Freizeit zuhause wird gedanklich und tatsächlich mit Arbeit zugebaut. Hier sind wir "immer online" und "auf Standby".
An anderen Arbeitsorten wechseln sich Wartezeiten, die nicht regenerativ genutzt werden können ab (Standby statt Pausen) mit Phasen, wo in kurzer Zeit sehr viel erledigt werden muss: Manchmal reine Fleissarbeiten, manchmal sind kreative Lösungen gefragt - genau wie in den Games.

Auch wer einen WK absolviert hat, kennt die langen Standby-Zeiten, deren Nutzen man regelmässig hinterfragt.
Ja, wer profitiert davon, dass wir viel Zeit im Suspense des Wartens (Standby-Modus) verbringen? Zeit, die wir weder mit Schlafen, noch mit Meditation, noch mit qualitativ hochstehenden zwischenmenschlichen Interaktionen noch mit Kreativem füllen können?

Führen uns eine solche Ausbildungs- und Arbeitswelt oder solche Games wirklich näher zum Wesentlichen im Leben heran oder näher an uns selbst? Bringen sie uns als Menschen weiter, helfen sie uns zu reifen und ein erfüllendes Leben zu führen?

Oder stehlen sie uns Lebenszeit, Lebenskraft, körperlicher Aktivität und berauben uns der wichtigen Regeneration für Körper, Geist und Seele? Denn im Schlaf erholen wir uns, im Standby-Modus nicht.

In Freiheit spielenNach oben ↑

Es bleibt dabei, spielen ist essentiell für Menschen jeden Alters. Die Lust am Spiel ist es, die uns für Herausforderungen und Neues begeistert und motiviert. Spiel und Freiheit gehören zusammen, jedoch nicht Spiel und Zwang oder Sucht.

Die natürliche Lust am Spiel auszubeuten, finde ich moralisch verwerflich. Da dies aber getan wird, muss die Frage lauten:

Was braucht der Mensch, um sich dagegen zu wehren?
Was hilft ihm, um "nein" sagen zu können? Um aufhören zu können? Gerade auch bei Kleinkindern, Schulkindern und Jugendlichen? Aber genügend auch bei Erwachsenen.
Was hilft, dem Menschen seine Freiheit zu bewahren?

Legen Sie Ihr Smartphone, Ihren Computer, Ihr Game, ihre Serie einmal für einen Tag, eine Woche, einen Monat zur Seite. Wenn Ihre Gedanken stets wieder zu ihnen führen, wissen Sie, ob sie eine Abhängigkeit entwickelt haben oder nicht.

Bedenken Sie: Erfüllte Menschen suchen nicht im Aussen, was bereits in ihrem Inneren ist.

Foto: (C) 2012 Tatjana Cárpino Satz. 

  1. Merge Dragons ist eine Gratissoftware für Smartphones. Man musste, grob gesagt, sporadisch vorbeifliegende Samen einfangen und ca. 10 Minuten warten, bis aus ihnen Blumen sprossen. Mehrere Blumen konnte man dann zusammenlegen und so entstanden immer grössere und mächtigere Blumen, aus denen kleine Drachen Kraft in Herzform gewinnen konnten. Fast alles lässt sich zusammenschliessen, sogar die Samen, und es so zu etwas mächtigerem anwachsen lassen. Wer seinen 20 Minuten schlafenden Drachen aufwecken wollte, musste entweder dafür Geld bezahlen oder eine Werbung für ein anderes Spiel ansehen (mind. 30"). Alles liess sich durch gesammelte Punkte bzw. echtes Geld manchmal durch Wartezeit erkaufen. Ziel des Spiels: Das von dunklen Wolken verdeckte "tote Feld" wieder lebendig zu machen. Punkte sammeln konnte man auf der Landkarte, indem dieselben Erlösungs-Aufgaben auf kleinen Inseln gelöst wurden. Also ein durchaus positiv gestimmtes, in seiner Haltung lebensbejahendes Spiel - ausser für das eigene Leben...! 

  2. Auf den Punkt gebracht wird die Problematik in der 43-Minuten-Folge 6 "The Game" (USA 1991) aus Star Trek - The Next Generation, 5. Staffel. Die ganze Crew des Raumschiff Enterprise verfällt einem simplen Spiel, das aber orgiastische Gefühle auslöst. Dabei wird die Crew aber auch neurologisch neu "programmiert": Sie werden willig ihr Schiff einer fremden Frau übergeben wollen. 

  3. Egoshooter sind Computerspiele, wo man die Perspektive des Kriegers einnimmt, der dann auf die Feinde mit Angriff oder Gegenwehr reagieren muss. 

  4. "Ender's Game" (USA 2013) ist ein Science-Fiction-Film, in welchem Computersimulation und Realität aus militärischen Gründen absichtlich vermischt werden. 

  5. Michael Ende thematisierte dieses Thema mit "Momo" bereits: "Graue Herren" forderten die Menschen auf bei der Arbeit effizienter zu werden und somit Zeit zu sparen. Die gesparte Zeit konnten sie auf ein Konto bei den "grauen Herren" einzahlen. Von dieser Zeit profitierten allerdings nur die "grauen Herren", die nämlich wörtlich davon lebten. 

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